New Research on the Pre-Modern Tsarist Empire

New Research on the Pre-Modern Tsarist Empire

Organisatoren
Ricarda Vulpius, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
PLZ
48143
Ort
Münster
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.03.2023 - 24.03.2023
Von
Nikolas Ender, Exzellenzcluster "Religion und Politik", Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Auf Einladung von Ricarda Vulpius fand vom 23. bis 24. März 2023 in Münster die Tagung „New Research on the Pre-Modern Tsarist Empire“ statt. Die 14 Beiträge, die zeitlich alle zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu verorten waren, thematisierten die räumliche Gestaltung des imperialen Raums, das Zarenreich als Kolonialreich, das autokratische Selbstverständnis, Sozialkontrolle, Aushandlungsprozesse und Fragen der Wissens-, Diskurs- und Verflechtungsgeschichte. Räumlich ging es sowohl um das „Wilde Feld“ im Südwesten des Reiches als auch um Sibirien und die osmanisch-russische Grenzregion.

Im ersten Panel stand die Kategorie des Raumes als konstitutiver Faktor in der Ausübung imperialer Herrschaft im Zentrum. ALEXANDER LAVROV (Paris) arbeitete den historischen Mehrwert einer petrinischen Kartensammlung heraus und hob ihre Bedeutung als Spiegel der geographischen Vorstellungswelt imperialer Eliten hervor. Er zeigte, dass die Wünsche, Ziele und geplanten architektonischen Projekte Peter I. in einem wechselseitigen Verhältnis zu den Grenzen des geographischen Wissens standen, über das die Elite verfügte. Eine Karte der administrativen Struktur des Imperiums wurde beispielsweise erst nach der Umsetzung einer Verwaltungsreform erstellt, während die Idee eines mecklenburgischen Kanals zur Verbindung zwischen Nord- und Ostsee kartografisch abgebildet, aber nie in die Tat umgesetzt wurde. Sein Beitrag verdeutlichte, dass Karten geographische Realitäten nicht einfach abbildeten, sondern sie zuweilen auch erst erzeugten. ANGELA RUSTEMEYER (Düsseldorf) widmete sich der Darstellung der Steppe als geographischem Bezugspunkt des kosakischen Hetmanats. Mit Bezug auf russischsprachige Quellen deutete sie auf die Praxis der Autoren hin, das Territorium kulturell mit dem kosakischen Herrschaftsverbund zu assoziieren. In Anknüpfung an die Untersuchungen Willard Sunderlands setzte sie einen Gegenakzent zu den essentialistischen Interpretationen des „Dikoe Pole“, dessen kulturelle und politische Bedeutung im 17. Jahrhundert vermehrt Gegenstand von Debatten wurde. ULRICH HOFMEISTER (München) lenkte den Fokus auf den Städtebau des Imperiums, der sich im Zuge von Expansion gen Osten intensivierte. Für den Bau urbaner Räume war der Einfluss städteplanerischen Wissens aus der Steppe erheblicher als bislang angenommen. Hofmeister wies nach, dass nicht mit St. Petersburg die russländische Stadtplanung im 18. Jahrhundert ihren Neufanfang nahm, sondern mit dem Bau von Taganrog. Darüber hinaus hob Hofmeister die Bedeutung des Stadtrechts als Markierung urbaner Identität hin, wobei der geographischen Position und dem architektonischen Stadtbild im Gegensatz zu westeuropäischen Städten weniger Bedeutung zukam. Mitunter wurden Städte gar mehrmals umverlegt, weil sich ein vorgesehener Ort in der Praxis als ungelegen herausstellte, sodass deren Lage nur ein geringes Identifikationspotential zukommen konnte. Hofmeiers Beitrag führte vor Augen, dass der Eindruck einer Dominanz westlichen Wissenstransfers für die architektur- und städteplanerischen Entwicklungen des Imperiums über die Bedeutung (zentral-)asiatischen Einflusses hinwegtäuscht und die Innovationen, die innerhalb der (vor allem südöstlichen) Peripherien ins Zentrum zurückwirkten, stärkere Berücksichtigung finden sollten.

Das zweite Panel wendete sich dem Imperium als Kolonialreich zu. CHECHESH KUDACHINOVA (Mannheim) verwies auf das Inventar einer kosakischen Expeditionsgruppe, an dessen Beispiel sie Materialität als Spiegel kolonialer Herrschaft ins Zentrum rückte. Den Besitz von Walross-Elfenbein und das Mitführen eines versklavten Mannes, welches einer der Männer im Testament an den Zaren inventarisch auflistete, untersuchte sie als einen Mikrokosmos kolonialer Expansion, in dem sich auch soziale und kulturelle Hierarchien zwischen Kolonialisierten und Kolonialisieren abbildeten. Unter dem Verweis auf die Zirkulation der Objekte betonte sie die Netzwerke imperialer Eliten und der Teilnehmer der Expeditionen. OLGA TRUFANOVA (München) stieß sinnesgeschichtlich in das Thema vor. Der Geschmack indigener Gemeinschaften wurde im 18. Jahrhundert Gegenstand eines kolonialen Diskurses, so Trufanova, in dem Vorstellungen vorgeblicher kultureller Minderwertigkeit aus der Ernährungswelt sibirischer Gruppen abgeleitet und schablonenhaft auf sie übertragen wurden. Sie stellte sich gegen die Forschungsmeinung, dass Wissenschaftler imperialer Expeditionen nicht an der Kolonialisierung des Reiches beteiligt gewesen sein sollen und verwies darauf, dass diese das ethnografische Wissen generierten, über das koloniale Herrschaft legitimiert wurde und nicht zuletzt selbst koloniales Gedankengut in ihre Aufzeichnungen einfließen ließen. Damit zeigte sie, dass sich die Kolonialisierung Sibiriens auch in der Bewertung der Lebensmittel widerspiegelte. Während die ersten beiden Arbeiten das koloniale Wissen in den Blick nahmen, das sich aus dem unmittelbaren Kontakt mit indigenen Gemeinschaften generierte, verwies RICARDA VULPIUS (Münster) auf die Transformation von Begriffen des „Othering“ der imperialen Elite für ursprünglich nicht-christliche Untertanen des Reiches. Dem Eindruck, kolonialisierte Personengruppen seien durch ihre Konversion „mit dem Titularvolk verschmolzen“, stellte sie die differenzierende Wirkung des Status der „Neugetauften“ gegenüber. Dieser Status gestaltete sich als eine Kategorie, durch die die Akkulturierung an die russisch-orthodoxe Mehrheitsbevölkerung vorangetrieben, jedoch zugleich die rechtlichen und wahrgenommenen kulturellen Unterschiede zur angestammten Bevölkerung bekräftigt wurden. Diese widersprüchliche Entwicklung, so Vulpius, zeichnete sich in dem Bedeutungswandel des Begriffes „inovercy“ ab, der sich im Zuge des 18. Jahrhunderts von einer rein religiösen hin zu einer Kategorie transformierte, die auch eine ethnische Andersartigkeit abzubilden begann. In der an das Panel anschließenden Diskussion zeichneten sich unterschiedliche Positionen in der Frage nach der Reichweite des russländischen Kolonialismus und insbesondere in der Frage ab, welche Ebenen der russländischen Gesellschaft (rechtlich, makro-, bzw. mikrohistorisch) dieser durchdrang.

Das dritte Panel spiegelte ein gestiegenes Interesse an sozialen und theologischen Aushandlungsprozessen sowie an den an die einzelnen Peripherien gebundenen Weltbilder imperialer Eliten wider. LENA MARASSINOVA (Tübingen) präsentierte Zugänge zur Historiographie der Sozialdisziplinierung des 18. Jahrhunderts, über die sich das interaktive Verhältnis von staatlicher Macht, kollektiver Zugehörigkeit und individueller Selbstverortung erforschen lasse. Besonders die Todesstrafe als Mittel zur Ausübung sozialer Kontrolle in der Frühen Neuzeit sei durch die breite Verfügbarkeit von Primärquellengenres aus der Feder staatlicher Autoritäten gut zugänglich, wobei Marassinova für eine stärkere Einbindung historischen Materials plädierte, welches die Perspektive der sozial kontrollierten Bevölkerung abbilde. CHRISTOPH WITZENRATH (Bonn) widmete sich der Befreiung orthodoxer Personen aus der osmanischen Gefangenschaft und betrachtete sie als Projektionsfläche für das autokratische Selbstverständnis moskowitischer Eliten. Er stellte dar, wie orthodoxe Eliten die Vergabe wirtschaftlicher Vorteile an Rückkehrer aus dem osmanischen Reich und deren Bekenntnis zum orthodoxen Glauben zur Legimitation ihrer Machtposition einsetzten. Indem er dem Begriff der Nichtversklavungszone bzw. Versklavungszone das Konzept der Gegenabhängigkeitszone gegenüberstellte, verwies er auf das Wechselverhältnis von Grenzübertritt und der Entstehung eines speziell für die Grenzregion geltenden Weltbildes moskowitischer Eliten. Für den Zaren bedeutete die Inszenierung der Befreiung osmanischer Sklaven eine Aufwertung seines Status als Bewahrer der russischen Orthodoxie. NATALIIA SINKEVYCH (München) untersuchte die Bestrebungen ruthenischer Theologen, im späten 17. Jahrhundert eine unabhängige Kyiver Kirchentradition zu etablieren, die sich in der Ausgestaltung der Transsubstantiationslehre von der Moskauer Kirche abzugrenzen versuchte. Während die ruthenischen Theologen in Anlehnung an die lutherische Lehre Christis Aufforderung „Nehmt und Esset“ als Moment der Transformation betrachteten, konstituierte sich nach der Vorstellung der Moskauer Eliten die Wandlung erst im Gebet zum Heiligen Geist. Dabei hob sie hervor, dass die Transsubstantiationsfrage im 17. Jahrhundert noch gar nicht dogmatisiert worden war, sodass innerhalb der orthodoxen Gemeinden gar keine einheitliche Praxis bestand.

Das letzte Panel umfasste Beiträge zur Diskurs- und Begriffsgeschichte, wobei der Transfer westeuropäischen Wissens in das östliche Europa aus einer trans- und verflechtungshistorischen Perspektive untersucht wurde. LUDWIG STEINDORFF (Kiel) präsentierte seine Forschung zum Reisebericht von Aleksej Savvič Romančukov, der im 17. Jahrhundert im gleichen Zeitraum wie Adam Olearius die Grenzregion des Moskowitischen und Osmanischen Reichs bereiste. Indem er thematische Schnittstellen in den Berichten vermerkte, eröffnete er die Möglichkeit, die Berührungspunkte der Reisenden zu untersuchen. Steindorff hob den Wert des russischsprachigen Textes für verflechtungshistorische Ansätze hervor, der als Parallelquelle betrachtet wertvolle Einblicke in die kulturspezifische Wahrnehmung von Alterität, die Bedingungen frühneuzeitlichen Reisens und deren materieller Kultur erwarten lasse. Sein Beitrag verdeutlichte, dass besonders in der Erforschung von Alterität, in der Berücksichtigung von Gegenperspektiven, ein Verständnis zur Diskrepanz von imperialen Vorstellungen und gelebter Praxis zutage gefördert werden kann und sich nicht zuletzt die Weltbilder der Reisenden in ihrer eigenen kulturellen Prägung besser nachzeichnen lassen. CORNELIA SOLDAT (Köln) konzentrierte sich am Beispiel eines Pamphlets aus dem 16. Jahrhundert auf die Darstellung Ivan IV. als Tyrann. Unter dem Fokus auf deutschsprachige Diskurse verwies sie auf griechische Topoi und Narrative, auf die die Autoren zur Repräsentation des Herrschers zugriffen. Ihr Beitrag schuf eine Sensibilität für die Grenzen des Wissens, auf die Autoren unter bestimmten räumlichen und temporalen Bedingungen zugriffen. ANDREI DORONIN (Moskau/Bonn) stellte die sich wandelnde Bedeutung östlicher Städte, darunter Moskau, Kiew und Cholm, heraus, die über die Jahrhunderte hinweg um die religiöse und politische Hoheitsstellung in der Region konkurrierten. Während Kiew im 13. Jahrhundert die Funktion als politisches Zentrum des Reiches verlor, blieb es trotz der politischen Vormachtstellung Moskaus ein Ankerpunkt orthodoxen Glaubens. Dabei hob Doronin die Narrative und Taktiken moskowitischer Herrscher hervor, anhand derer sie die Herrschaft über neu gewonnene Räume im 17. Jahrhundert begründeten. GLEB KAZAKOV (Giessen) leistete einen Beitrag zur Historisierung des russischen Begriffs „Bunt“, der seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts andere Termini zur Beschreibung populärer Aufstände abzulösen begann. Kazakov führte die zunehmende Verwendung des Begriffs gegenüber Konzepten, die über eine längere sprachliche Tradition verfügten, auf dessen größere sprachliche Präzision zurück. Er betonte den Mehrwert, den der Terminus für das sich zunehmend zentralisierte Staatswesen zur Einordnung bewaffneter Widerstände erfüllte. Indem er übersetzte Werke aus dem deutschsprachigen und holländischsprachigen Raum in den Blick nahm, verdeutlichte er die Verwobenheit von Wissenstransfer und sprachlichem Wandel. STEFAN SCHNECK (Berlin) präsentierte die redaktionellen Überarbeitungen westeuropäischer Werke, die im 17. Jahrhundert nach Moskau gelangt waren und dort an die Bedingungen des Druckbetriebs angepasst wurden. Mit Verweis auf die Schriftwahl, die Nutzung bzw. das Entfernen von Bildmaterial und die Überarbeitung des Textinhaltes stellte er Werken, die in hoher Auflage gedruckt wurden, solche gegenüber, deren Rezeption gering blieb. Abbildungen mit Nacktheitsszenen wurden ausgelassen und die Werke an die Normen der moskowitischen Drucklandschaft angepasst. Der Transfer der von Schneck beschriebenen Arbeiten stellte sich als eine Zensurgeschichte dar, in der staatliche Behörden Einfluss auf die Verbreitung westeuropäischer Wissensbestände nahmen.

In der Abschlussdiskussion brachten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ihre Freude über die Rückkehr in das analoge Tagungsformat zum Ausdruck. Es wurde beschlossen, Tagungen zum frühneuzeitlichen Zarenreich auch in der Zukunft regelmäßig stattfinden zu lassen und dies alternierend digital und in persona durchzuführen. Erfreulicherweise erklärte sich Christoph Witzenrath bereit, die Tagung für das Jahr 2025 in Bonn auszurichten. Für das kommende Jahre einigte sich das Research-Nework „Pre-modern Tsarist Empire between Eastern Europe and Asia“ darauf, die Tagung am 1.3.2024 digital zu organisieren. Die Anwesenden begrüßten einhellig die mit diesem Ausblick verbundene Konsolidierung der Frühneuzeitforschung innerhalb der Ostslavischen Geschichte.

Konferenzübersicht:

1. Panel: Wahrnehmung und Gestaltung des imperialen Raums
Moderation: Andreas Renner

Alexandr Lavrov (Paris): L’Empire des cartes. Die Kartensammlung Peters des Großen als Herrschaftsinstrument

Angela Rustemeyer (Düsseldorf): Kto izobrel Dikoe pole? Političeskoe osmyslenie stepnogo prostranstva do ėpochi Prosveščenija: Moskvoskoe gosudarstvo i Getmanskaja Ukraina (Wer erfand das Wilde Feld? Voraufklärerische politische Konstruktionen der Steppe als Raum in Quellen aus dem Moskauer Reich und dem ukrainischen Kosakenhetmanat)

Ulrich Hofmeister (München): Jenseits von St. Petersburg: Städtebau im Zarenreich des 18. Jahrhunderts

Kommentar: Julia Herzberg

2. Panel: Das Zarenreich als Kolonialreich
Moderation: Ingrid Schierle

Chechesh Kudachinova (Mannheim): The Cabinet of Curious Commodities at the Anady River: Localizing Colonialism in Pre-Modern Northeast Eurasia

Olga Trufanova (München): Matter of Taste: On Coloniality of Dietary Discourses in the 18th century Ethnographic Texts from Siberia

Ricarda Vulpius (Münster): Von Inozemcy zu Inovercy und Novokreščenye: Othering im 18. Jahrhundert

Kommentar: Andreas Renner

3. Panel: Autokratisches Selbstverständnis, Sozialkontrolle und (theologische) Aushandlungsprozesse
Moderation: Liliya Berezhnaya

Lena Marassinova (Tübingen): Channels of social control of power in pre-modern Russia: Research perspectives

Christoph Witzenrath (Bonn): “The tsar liberates us”. Muscovite Worldviews, Autocracy and Hybridization in the Steppe Rim

Nataliia Sinkevych (München): The timepoint of the transubstantiation as a crucial theological discussion in the late 17th century

Kommentar: Ingrid Schierle

4. Panel: Diskurs-, Begriffs- und Wissensgeschichte
Moderation: Julia Herzberg

Ludwig Steindorff (Kiel): Von Diplomatie, Spionage und Geschenken – Der Bericht des Aleksej Savvič Romančukov. Eine russische Parallelquelle zur „Moscowitischen Reise“ des Adam Olearius

Cornelia Soldat (Köln): The Instrumentalization of Antique Rhetorical Invectives in a Pamphlet Discourse of the 16th Century: Historiographical Criticism of the Discourse on Tyrants in the German Opričnina Pamphlets about Ivan the Terrible

Andrej Doronin (Moskau/Bonn): O glavnom gorode rusi v XVII v. (Über die Metropole der Rus’ im 17. Jahrhundert)

Gleb Kazakov (Giessen): “Russkij bunt”: Kul’turnyj transfer i ėvoljucija ponjatija v Rossii XVII v. („Russischer Aufstand“: Kulturtransfer und die Begriffsevolution im Russland des 17. Jahrhunderts)

Stefan Schneck (Berlin): Foreigners and their unsuccessful attempts to “bring knowledge” to Muscovy in the 17th century

Kommentar: Lorenz Erren

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